KVN Pro

Die Not mit der Not

Wie geht es weiter mit der Notfallversorgung der Bevölkerung? Beim dritten „Braunschweiger Gesundheitsdialog“ der KVN kamen Experten aus der täglichen Praxis zu Wort

Die medizinische Notfallversorgung der Bevölkerung steckt in der Krise. Die Fallzahlen steigen beständig, in der Notaufnahme herrschen oft Hochbetrieb und Dauerstress für das Personal, aber viele vermeintliche Notfälle entpuppen sich als Bagatellen. Wo müsste man ansetzen, um Krankenhäuser und Bereitschaftsdienste zu entlasten? Darüber diskutierte am 5. Mai im Hause der KVN Braunschweig eine Runde von Experten aus unterschiedlichen Bereichen der medizinischen Versorgung, die allesamt täglich mit den Aufgaben der Notfallfallversorgung konfrontiert sind. „Sektorengrenzen im Notfalldienst überwinden – Akutversorgung unter Druck“ – mit diesem Motto lenkte die KVN als Veranstalterin den Blick von vornherein auf ein Kernproblem: Das Neben- und Durcheinander unterschiedlicher Strukturen und Zuständigkeiten, das auch die Patienten im Bedarfsfall oft ratlos vor das System stellt.

 

In seinem Grußwort verwies Braunschweigs Oberbürgermeister Dr. Thorsten Kornblum offen darauf, dass die Rettungsdienste der Stadt im letzten Winter „an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit“ gelangt seien. Einen Ausweg sehe der Stadtrat in integrierten Notfallzentren und mehr Videosprechstunden. Eine Zusammenlegung der Notrufnummern 112 und 116117 dagegen könne den Schwerpunkt von der Gefahrenabwehr auf die gesundheitliche Beratung verschieben, das sei nicht zu leisten. Allenfalls ließen sich die Schnittstellen verbessern. Mit Blick auf andere Länder, in denen die Organisation oft besser funktioniert, resümierte der OB: „Es fehlt nicht an Ressourcen, sondern an der Aufteilung.“

 

„Gesundheitsversorgung anders denken“ forderte Prof. Martina Hasseler von der Ostfalia Hochschule und Mitglied der Regierungskommission für die Neuordnung der Notfallversorgung. „Wir haben kein interprofessionell organisiertes Gesundheitssystem. Das benötigen wir viel stärker.“ Eine Stärkung der pflegerischen Notfallversorgung etwa könnte die Ärzte entlasten. „Muss denn jeder Patientenkontakt ein ärztlicher sein? Wir haben die anderen Gesundheitsprofessionen vergessen, und das fällt uns gerade auf die Füße.“

 

Für André Koch, Direktor des Klinikums Wolfsburg, standen die Finanzierungsaspekte im Vordergrund. „Wir werden gebraucht, wir wollen auch dafür da sein, aber wir wollen auch das Geld dafür haben.“ Man dürfe nicht an der Realität vorbei planen – um 100 Prozent Leistung zu erhalten, müsse man für 125 Prozent planen. Denn es gebe viele echte Notfälle, der „ungesteuerte Notfall“ in den Ambulanzen sei nicht die Regel. Die viel diskutierten Integrierten Notfallzentren seien eine gute Idee, allerdings müsse man ihre Funktion für die Patienten transparenter machen.

 

„Soll die Nachfrage das Angebot steuern?“ fragte dagegen Dr. Thorsten Kleinschmidt, Vorsitzender der KVN Bezirksstelle Braunschweig. Viele Patienten, die in der Notfallversorgung auftauchten, seien keine echten Notfälle. Essentiell sei daher die Patientensteuerung. Das 24/7-Angebot von Integrierten Notfallzentren, das die Regierungsvorschläge vorsehen, ließe sich in der Realität nicht darstellen. „Damit befeuert man das System immer weiter.“ Vielmehr müsse über "intelligente Digitalsierung das Angebot die Nachfrage bestimmen.

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Die Beteiligten am Gesundheitsdialog: Stefan Hofmann, Geschäftsführer der KVN BZ Braunschweig, Dr. Marius Haack, Dr. Thorsten Kleinschmidt, Prof. Martina Hasseler, Prof. Dr. Georg von Knobelsdorff, Sabine Nowack-Schwonbeck, Maren Preuß, André Koch (v.l.n.r.)  Foto: KVN/ Köster

In diese Richtung argumentierte auch Prof. Dr. Georg von Knobelsdorff, Vorsitzender der Sektion Niedersachsen/Bremen der Arbeitsgemeinschaft in Norddeutschland tätiger Notärzte und ärztlicher Direkter des St. Bernward-Krankenhauses in Hildesheim. Die wirklich lebensbedrohlichen Notfälle würden hervorragend versorgt. Doch „diesen Super-Mercedes-Plus setzen wir in vielen anderen Sachen ein, wo er so nicht gebraucht wird.“ Es gebe zu viele Einsätze, „da wäre gar kein Einsatz erforderlich“. Die Leitstellen müssten optimiert werden, um das ganze Fallspektrum einschätzen zu können – so wie in den USA, Niederösterreich, Maastricht. „Die haben wirklich große Leitstellen – nicht nur die kommunalen wie hier in Niedersachsen. Die müssen eine gewisse Größe haben, damit sie so etwas auch können.“ Man müsse etwas schaffen, das „dem Patienten nicht das gibt, was er will, sondern was er wirklich braucht.“

„Es fehlt an der Gesundheitskompetenz der Patienten“, stellte Sabine Novak-Strombeck, Geschäftsführerin des Gesundheitsmanagement stationär der AOK Niedersachsen, fest. „Es gibt zu viele, die nicht mehr wissen: Wie kann ich mit einem umgeknickten Fuß umgehen, wie gehe ich mit Fieber um …“ Hinzu komme die Intransparenz des Systems. „Ich glaube, wer nicht aus dem Gesundheitssystem kommt, sich täglich informiert oder chronisch krank ist, der weiß nicht, wie das funktioniert.“ Die Bürger wählten dann den einfachsten Weg – den in die Notaufnahme. Der Notfallbereich müsse als eigenständige Organisationseinheiten mit eigenständigem Budget etabliert werden – „klarer Schnitt und vernünftig neu machen.“ Dazu gehöre auch ein differenzierter Einsatz der Rettungsmittel, etwa Krankenwagen oder auch Taxis statt Rettungswagen für den Krankentransport.

 

Aber sind die vielen Bagatellfälle wirklich das Problem? Dr. Marius Haack von Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e. V., der die Veranstaltung gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Maren Preuß moderierte, verwies auf Studien, nach denen sechs von zehn Patienten in den Notaufnahmen keine echten Notfälle seien. Andere kämen nur auf zehn Prozent. Direkt gefragt, wollte sich André Koch nicht festlegen: „Man kann, wenn man von den Eskalationsstufen ausgeht, schon die zehn Prozent ansetzen. Die Betroffenen haben darauf aber eine ganz andere Perspektive.“ Von 40.000 Patientenkontakten in der Notaufnahme seines Klinikums würden 40 Prozent stationär aufgenommen.

 

Oder reichen die Angebote der KVN im Bereitschaftsdienst nicht aus, um die Masse der leichteren Fälle herauszufiltern? Doch, so Thorsten Kleinschmidt. Das Triagesystem „SMED“ bei der 116117 könne mit wenigen Fragen einen Fall der richtigen Versorgungsstufe zuführen. Aber das Problem sei, dass die Leute dort nicht anrufen, sondern gleich ins Krankenhaus gehen nach dem Motto: Die sind ja eh da.“ Dann könne die Lösung nur sein, die Ersteinschätzung an der Klinikpforte vorzunehmen. Dazu gehöre dann aber auch, dass das Krankenhaus rechtlich abgesichert werde, in leichten Fällen die Patienten auch abzuweisen.

 

In den Notfallpraxen könnten auch ausgebildete Notfallsanitätern den Ärzten viele Aufgaben abnehmen, stimmte Martina Hassler zu. „Die Frage ist, ob die Bevölkerung auch Vertrauen in andere Berufsgruppen hat und akzeptiert, dass ein anderes System auch gut ist.“ Und dann sei es auch sehr schwer geworden, einen Arzttermin zu bekommen. „Das führt dann bei den Bürgern zu der Reaktion: Dann gehen wir eben in die Notaufnahme.“

 

Immer wieder klang an: Das Grundproblem ist die Zersplitterung des deutschen Gesundheitswesens mit seinen vielfältigen Zuständigkeiten. Dr. Oliver Marschall, KVN-Kreisstellenvorsitzender in Braunschweig, brachte es aus dem Publikum heraus auf den Punkt: „Was sind denn das für Nachbarländer, in denen alles besser funktioniert? Das sind Länder mit einem staatlichen Gesundheitssystem. Da gibt es keine 36 Krankenkassen. Da gibt es eine einzige Gruppe, die festlegt, was dieses Land an Versorgung benötigt.“ In Deutschland würde „herumgeschachert, herumgeschoben“, aber niemand packe die Probleme wirklich an. Da erscheine die Staatsmedizin als verlockende Perspektive für die Lösung vieler Probleme, die andere Länder nicht haben.

 
Was tun?


So unterschiedlich die Diskutanten, so unterschiedlich auch die Standpunkte. Dennoch zeichnete sich eine Reihe gemeinsamer Leitgedanken für eine künftige Notfallversorgung ab. Wir brauchen demnach

  • vernetzte Leitstellen, die auch kreisübergreifend operieren und die 112 und die 116117 integrieren
  • ausreichende, am besten unabhängige Finanzierung des Notfallsystems
  • einfachere, überschaubare Zugangswege
  • Patientensteuerung über Telefontriage und Videokonsultationen
  • mehr Verantwortung für arztentlastende Berufe
  • schnelleren Zugang zur medizin. Regelversorgung
  • mehr Gesundheitskompetenz für die Bürger