KVN Pro

Kollaps auf Raten

Dr. Ludwig Grau, stellv. Vorsitzender der Vertreterversammlung der KVN, widerspricht den Zahlen des Statistischen Bundesamtes zu den Arzteinkommen. Er sieht die Niedergelassenen weiterhin benachteiligt – und warnt vor strukturellen Problemen

Herr Dr. Grau, seit Wochen warnt die ärztliche Selbstverwaltung vor dem Praxiskollaps. Doch folgt man den Zahlen, die jetzt das Statistische Bundesamt veröffentlicht hat, geht es den Praxen finanziell blendend. Was stimmt denn nun?


Grau: Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes irritieren mich. Man hat den Eindruck, sie sollen das Einkommen des einzelnen niedergelassenen Arztes wiedergeben. Leider hat das Statistische Bundesamt keine Arzt- und Praxiszahlen angegeben. Auf Nachfrage erfährt man dann, dass sich die Ergebnisse auf ganze Arztpraxen beziehen. Ich vermute, man ist von 64.754 Praxen ausgegangen, für die man dann einen Umsatz von 756.000 Euro pro Praxis Umsatz und einen Gewinn von 336.000 Euro im Jahr 2021 errechnet hat. Ich halte diese Praxiszahl aber für zu niedrig angesetzt.

 

Was ist denn realistischer?
Grau: Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in ihrem Honorarbericht 2021 umfasste die vertragsärztliche Versorgung in diesem Jahr 148.158,00 Arztsitze, die von 172.361 Ärzten besetzt waren. Diese Zahlen decken sich mit den Angaben des AOK-Bundesvorstandes, der für den Stichtag 31. Mai 2022 von 126.908 Vertragsärzten, 21.898 angestellten Ärzten und Psychotherapeuten, 23.997 angestellten Medizinern in MVZ und ca. 10.000 ermächtigten Ärzten ausgeht. An anderer Stelle (www.aok-bv.de) spricht die AOK von 163.805 Ärzten im ambulanten Bereich

 

Und wie sieht dann die Rechnung aus?
Grau: Wir müssten also den durchschnittlichen Praxisumsatz und den Praxisgewinn, den das Statistische Bundesamt ermittelt, durch 2,6 teilen, um das durchschnittliche Arzteinkommen zu erhalten. Die Zahlen, die sich dann ergeben, wären für mich eher nachvollziehbar.

 

Was ergäbe ich aus Ihrer Sicht konkret?
Grau: Dann läge das Statistische Bundesamt gar nicht so weit neben den Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Nach dem KBV-Honorarbericht 2021 betrug der durchschnittliche Quartalsumsatz pro Arzt/Psychotherapeut in 2021 ca. 60.000 Euro, somit 240.000 Euro im Jahr. Vergleichen wir das mit den Zahlen von Statista: 72 Prozent der Praxiseinnahmen sollen aus GKV-Zahlungen kommen, das wären 44,78 Mrd. Euro. Gehen wir von ca. 172.000 Vertragsärzten/ Psychotherapeuten in Deutschland aus und setzen 44,78 Mrd. GKV-Zahlungen dagegen, ergibt sich GKV-Umsatz pro Kassenarzt von ca. 260.000 € pro Jahr. Das wäre plausibel. Diese Zahl deckt sich auch mit Angaben des VDEK Niedersachsen. VDEK-Sprecher Hanno Kummer hat im Mai in der Hannoverschen Allgemeinen gesagt, dass Niedersachsen im Ländervergleich mit GKV-Umsätzen von ca. 275.000 Euro/Jahr pro Praxis mit im oberen Drittel liegt.

 

Plus Privateinnahmen …
Grau: Ja, aber da werden die Zahlen von Statista in meinen Augen wieder fragwürdig. 24,5 Prozent der Praxiseinnahme kommen demnach aus PKV-Honoraren. Demnach sind 15,23 Mrd. Euro von der PKV in die ambulante ärztliche Versorgung geflossen. Das wären 41,5 Prozent des PKV-Gesamtumsatzes, der 2021 bei 36,7 Mrd. Euro lag. Ist das denkbar? Das Verhältnis des PKV-Umsatzes zum GKV-Umsatz beträgt laut Statista nur 12,5 Prozent. Zugleich setzt das Statistische Bundesamt Gesundheitsausgaben für Arztpraxen von bis zu 62,9 Mrd. Euro an. Für mich stellt sich die Frage: Was ist da alles noch mit eingeflossen?
Ich rechne so: Geht man von gemittelten 250.000 Euro GKV-Umsatz aus und nimmt 16 Prozent PKV- Umsatz hinzu – so die Frankfurter Allgemeine vom 1. September 2023 unter Bezug auf das ZI -, dann hat ein durchschnittlicher Kassenarzt, ob angestellt oder Inhaber der Praxis, einen Umsatz von 290.000 Euro pro Jahr.

 

Das klingt eher nach Porsche als nach Kollaps …
Grau: Ich spreche vom Umsatz, nicht vom Gewinn! Zieht man vom Umsatz 55 Prozent Kosten (ohne angestellte Ärzte) ab, ergibt sich realistisch ein Gewinn vor Steuer von 136.000 Euro im Jahr. Davon sind noch abzuziehen: Praxisfinanzierungskosten, Krankenversicherung zu 100 Prozent, Rentenversicherung zu 100 Prozent und Steuern ca. 35 Prozent. Dann hat ein Kassenarzt, ob angestellt oder selbstständig, im Schnitt 60.000 Euro pro Jahr zur Verfügung. Da gibt es von Praxis zu Praxis natürlich große Unterschiede.

Um es anschaulich zu formulieren: Ein Niedergelassener hat durchschnittlich im Jahr 135.000 Euro brutto. Klingt auch nicht nach Pleite …


Grau: Aber die Spitzenverdiener, zu denen uns Politik und Krankenkassen erklären, sind wir niedergelassenen Ärzte nicht! Die Problematik wird sichtbar, wenn Sie dieses Einkommen ins Verhältnis setzen zum Einkommen anderer ärztlicher Berufsgruppen. Das Netto-Gehalt eines Oberarztes am Krankenhaus liegt etwa zehn Prozent über den Durchschnittseinnahmen eines niedergelassenen Arztes, auch dank kräftiger Tarifsteigerungen im stationären Bereich. Doch die Versorgungslast ruht vor allem auf den ambulanten Strukturen. Vor allem aber muss man die längerfristige Entwicklung der Praxiseinnahmen betrachten. Dann erkennt man, wie wir Niedergelassenen jetzt ins Hintertreffen geraten!

Stichwort „Inflationsausgleich“, den die Praxen vehement für sich einfordern. Aber die Arzteinnahmen sind in den letzten Jahren doch kräftig gestiegen. Lesen Sie nur einmal die gesammelten Honorarberichte im nds. ärzteblatt der letzten Jahre.


Grau: Da stehen die Einnahmen. Von den Ausgaben steht da nichts. Das ZI hat das jetzt im September anhand seines „Praxis-Panels“ etwas näher analysiert. Dabei kommt man auf folgende Zahlen: 2019 hatten wir im ambulanten Sektor ein Einnahmenwachstum von 2,9 Prozent, 2020 von 4,7 Prozent und 2021 von 8,1 Prozent im Durchschnitt. 2021 war dabei geprägt durch Kurzfrist-Effekte durch die Umsetzung der Corona-Impfkampagne. Allerdings stiegen auch die Ausgaben sprunghaft an. Ihr Anstieg lag zwischen 2018 und 2021 bei 16,2 Prozent. Damit wurden die Einnahmenzuwächse von 16,4 Prozent in diesem Zeitraum praktisch aufgezehrt. Die Praxiseinnahmen stagnierten also, während die Verbraucherpreise in dieser Zeit um 5,1 Prozent zunahmen.

 

Die Inflation ist allerdings gebremst …
Grau: Das nützt den Praxen erst einmal nichts. Die Berechnungen für 2022 und 2023 stehen noch aus. 2023 liegt die Inflationsrate bei durchschnittlich 7,9 Prozent. Die Steigerungen bei den Personalkosten sind noch höher. Zugleich sind die Corona-Sondereffekte ausgelaufen und die Neupatientenregelung wurde abgeschafft. Ich vermute, dass viele Praxen spätestens 2023 rückläufige Einnahmen verzeichnen werden. In den meisten Branchen hatten wir dagegen Tariferhöhungen von fünf bis zehn Prozent. Insofern sind unsere Forderungen nach einem Inflationsausgleich von 10,2 Prozent berechtigt. Aber der wird den Praxen versagt.

 

Aber bedeutet das gleich ihren wirtschaftlichen Zusammenbruch? Andere Branchen leiden auch.
Grau: „PraxisKollaps“ bedeutet nicht gleich massenhafte Schließungen. Die meisten Niedergelassenen haben viel in ihre Praxen investiert und wollen und müssen sie am Leben halten. Das nutzt die Politik ja aus. Ich würde es eher „Versorgungskollaps“ nennen. Das ist etwas, was viele Patienten heute schon spüren. Es ist ein Auszehrungsprozess, der verschiedene Merkmale hat und sich jetzt beschleunigen wird. Ich sehe kurzfristig die Gefahr, dass unsere Kollegen und Kolleginnen über 65 Jahren das System verlassen und nur noch privatärztlich tätig sein werden. Auch angestellte Ärztinnen und Ärzte werden vermehrt in die Klinik zurückgehen. Aber die brauchen wir dringend in der ambulanten Versorgung! Denn durch die strukturelle Benachteiligung des ambulanten Sektors werden Nachbesetzungen von Arztsitzen immer schwieriger, die Lücken immer größer. Folgerichtig verlängern sich die Wartezeiten auf Arzttermine. Parallel dazu wandern viele MFA in besser bezahlte Bereiche ab. Neues Personal ist kaum noch zu finden. Also optimieren viele Ärztinnen und Ärzte ihr Leistungsportfolio und bieten bestimmte Leistungen einfach nicht mehr an, da sie sich wirtschaftlich nicht mehr rentieren. Wieder sind die Patienten die Leidtragenden, die für bestimmte Behandlungen dann weite Wege und lange Wartezeiten in Kauf nahmen müssen. Diesen „Kollaps“ mancher ärztlicher Leistungsbereiche können Sie heute schon beobachten.

 

Mit Dr. Ludwig Grau sprach Dr. Uwe Köster

 

 

„Auf Praxiserträgen lastet weiterhin hoher Ausgabendruck“


Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung veröffentlicht erste zentrale Ergebnisse aus „ZI-Panel“ zur wirtschaftlichen Lage der Arzt- und Psychotherapiepraxen 2018-2021

 

Das in den vergangenen Jahren eher schwache Einnahmenwachstum der knapp 100.000 Arzt- und Psychotherapiepraxen hat sich im Corona-Fokusjahr 2021 durch singuläre Effekte bei der Umsetzung der Impfkampagne kurzzeitig etwas verbessert: Die Gesamteinnahmen im Vergleich zum Vorjahr um 8,1 Prozent an. In den beiden Jahren zuvor hatte dieser Wert noch bei lediglich 2,9 bzw. 4,7 Prozent gelegen. Dieser Entwicklung steht aber ein sprunghafter Anstieg der Ausgaben gegenüber: Diese lagen 2021 im Vergleich zu 2020 bei 7 Prozent. Im Vorjahr waren es nur 3,7 Prozent. Insgesamt sind die Praxiseinnahmen zwischen 2018 und 2021 um 16,4 Prozent gestiegen, parallel dazu die Gesamtaufwendungen um 16,2 Prozent.

 

Der Kostenanstieg in den Praxen hat die Entwicklung der Verbraucherpreise, die im gleichen Zeitraum im Bundesdurchschnitt um 5,1 Prozent zunahmen, um das Dreifache überschritten. Größter Kostenfaktor für die Praxen sind die Ausgaben für Personal, die im Jahr 2021 fast 56 Prozent der Gesamtaufwendungen umfassten. Von 2018 bis 2021 nahmen die Personalaufwendungen um mehr als 22 Prozent zu. Die größten Kostensprünge gab es zudem bei Aufwendungen für Wartung und Instandhaltung (+42,2 Prozent), bei Material und Labor (+24,1 Prozent) sowie bei der Miete einschließlich Nebenkosten für Praxisräume (+7,3 Prozent). Die Kostenentwicklung der Praxen lag damit systematisch über der allgemeinen Teuerungsrate.

 

Für 2023 rechnet das ZI mit stagnierenden, wenn nicht gar rückläufigen Einnahmen, während aufgrund der hohen Inflationsrate von 7,9 Prozent im Jahresmittel die Personal- und Betriebskosten in den Praxen sprunghaft steigen. Die Corona-Sondereffekte aus dem Jahr 2021 seien spätestens 2023 wieder vollständig verpufft.



„Durchschnittswerte stark von Praxen mit sehr hohen Einnahmen und Aufwendungen beeinflusst“


In einer Pressemitteilung vom 31. August 2023 stellte das Statistische Bundesamt seine Eckdaten zu den Praxiseinkommen 2021 vor

 

Die Eckdaten:

  • Einnahmenanteil aus Kassenabrechnung 2021: Arztpraxen 71,7 Prozent, Zahnarztpraxen 52,7 Prozent, psychotherapeutische Praxen 90,1 Prozent
  • Durchschnittliche Einnahmen der Arztpraxen bei 756 .000 Euro, der Zahnarztpraxen bei 791.000 Euro und der psychotherapeutischen Praxen bei 127.000 Euro
  • Rechnerisch arbeiten 9,8 Personen in Arztpraxen und Zahnarztpraxen, 1,8 in psychotherapeutischen Praxen
  •  

Zu den Arztpraxen zählen Einzelpraxen, fachgleiche sowie fachübergreifende Berufsausübungsgemeinschaften (BAG) (=Gemeinschaftspraxen) und Medizinische Versorgungszentren (MVZ), ausgenommen sind Zahnarztpraxen und psychotherapeutische Praxen. Seit 2019, dem vorherigen Berichtsjahr der Erhebung, waren die Anteile der Einnahmen aus Kassenabrechnung (2019: 70,4 Prozent), Privatabrechnung (26,1 Prozent) sowie sonstigen selbstständigen ärztlichen Tätigkeiten (3,5 Prozent) nahezu unverändert.

Den errechneten Durchschnittseinnahmen von 756 000 Euro standen Aufwendungen von durchschnittlich 420 000 Euro gegenüber. Aus der Differenz von Einnahmen und Aufwendungen ergibt sich ein durchschnittlicher Reinertrag von 336 000 Euro je Praxis. Diese Durchschnittswerte sind stark von Praxen mit sehr hohen Einnahmen und Aufwendungen beeinflusst: So verzeichnete die Hälfte aller Arztpraxen nur Einnahmen bis 464 000 Euro, Aufwendungen bis 226 000 Euro und damit einen Reinertrag von höchstens 233 000 Euro (Medianwerte).

 

Ohne Einrechnung von fachübergreifenden BAG und MVZ lagen die Durchschnittseinnahmen je Arztpraxis 2021 bei 656 000 Euro. Es fielen Aufwendungen von durchschnittlich 333 000 Euro je Arztpraxis an. Der im Durchschnitt erzielte Reinertrag der Arztpraxen ohne BAG und MVZ belief sich auf 323 000 Euro je Praxis.